Schreibbüro zum blauen Federkiel

Literatur in Tateinheit mit Kunst: Naturalismus


Naturalismus (1880 - 1910)



Die Quelle (Arnold Lyongrün)


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Begriffserklärung: Naturalismus bedeutet die ungeschönte Darstellung der Realität. Die Wirklichkeit wird radikal abgebildet (Kunst) oder schriftlich wieder gegeben (Literatur), so wie sie ist. Das Motto dieser literarischen Epoche ist die unverzerrte Wiedergabe der Realität, basierend auf detailgetreuer Interpretation von Fakten und Tatsachen. Insofern ist sie eine gesteigerte Form des Realismus. 


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Industrieller Gesellschaftswandel  als historischer Hintergrund: Der Naturalismus ist gebettet in das Zeitalter der Industrialisierung. Immer mehr Menschen zogen hier aus Beschäftigungsgründen in die Städte, wo neuer, künstlich geschaffener Lebensraum einen krassen Kontrast zum Leben in ländlichen Gebieten darstellte. Eine "Verstädterung" der menschlichen Lebensräume war die Folge. Weiteren Einfluss auf Kunst und Literatur des Naturalismus nahmen darüber hinaus:


  • Neuerungen im Bereich der Wissenschaft (z.B. die Erfindung der Dampfturbine 1884)
  • Charles Darwins Evolutionstheorie
  • die innen- und außenpolitische Prägung durch Bismarck
  • der Imperialismus

Als gesamteuropäische Strömung beschreibt der Naturalismus eine Steigerungsform der realistischen Weltanschauung. Maßgeblich beeinflusst wurde die Epoche durch Hippolyte Adolphe Taines Milleutheorie, wonach der Mensch zum einen von seinen Erbanlagen und zum anderen von seinem sozialen Umfeld abhängig ist. Folglich beinhalteten die meisten literarischen Werke der Epoche oftmals scharfe Sozialkritik. 

In der Kunst berief man sich ebenfalls auf eine analytische Herangehensweise. Die Gesamtheit der wissenschaftlichen Methoden bei der detailgetreuen Darstellung der Wirklichkeit in Malerei und Literatur werden im Naturalismus gemeinhin als Positivismus (Untersuchungscharakter) beschrieben und beruhen auf objektiven Beobachtungen und Befunden. Eine Art der Interpretation also, wie sie bspw. auch in der Pädagogik und Psychologie zu finden ist.

Arno Holz definierte die naturalistische Formel: Kunst = Natur - x

wobei "x", die Differenz aus Natur und Kunst, so klein wie möglich sein sollte, um die Realität mit Hilfe von Kunst bzw. Literatur möglichst exakt abbilden zu können.




Bedeutung des Naturalismus für die Literatur

1880 - 1889 Frühnaturalismus: Die frühe Phase des Naturalismus wurde überwiegend von Theorien, Proklamationen und Lyrik bevölkert. In gewisser Weise findet der Naturalismus sich selbst durch die "soziale Frage". Der gesellschaftliche Umbruch sorgt auch für philosophische und lyrische Revolutionen. Er lässt sozialkritische Gedanken aus dem Realismus wieder aufkeimen. Hierbei wird Veranlagung und Umwelt des Individuums ganz nach pädagogisch-psychologischem Grundkonzept ein hoher Stellenwert bei der persönlichen Entwicklung eingeräumt.


Selbstbildnis mit Hund (Gustave Courbet)

Besonders ausgeprägt ist im Frühnaturalismus die Großstadtlyrik. Diese gliedert sich in zwei Hauptthemen - das Großstadtleben und die soziale Kritik daran. Philosophen des Naturalismus sind der Auffassung, die urbane (städtische) Lebensweise rufe beim Individuum eine chronische Reizüberflutung hervor. Die Großstadt an sich wird in der naturalistischen Literatur folglich als Ort des Elends und des Schmutzes verstanden, in dem jegliche Aspekte der Natur verloren gehen. Eines der wichtigsten Werke der frühnaturalistischen Großstadtlyrik ist das 'Buch der Zeit' von Arno Holz.



1889 - 1895 Hochnaturalismus: Hier werden die zeitgenössischen Denkansätze des Frühnaturalismus meist in Form von naturalistischen Prosatexten weiter vertieft. Prosa (lat.: prorsus/prosa oratio - gerade heraus) bezeichnet eine ungebundene Rede im Gegensatz zur Formulierung in Versen. Hierzu zählen Briefe, Reden, Gespräche Artikel Gesetzes- und Sachtexte, aber auch Biographien, Erzählungen, Novellen, Romane und Gebrauchsanweisungen sowie die Gesamtheit der Naturwissenschafts- und Memoirenliteratur. Gilt im Naturalismus etwas als prosaisch verfasst, so ist es meist eine nüchterne, trockene und objektive Darstellung von Sachverhalten, Empfindungen, Gedanken oder Beobachtungen. Im Vordergrund der naturalistischen Prosa steht zudem die Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Dichter und Proletariat (Arbeitergesellschaft), der Großstadt und/oder der Industrialisierung. Als Erzähltechnik wird meist die experimentelle Prosa verwendet, welche durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet ist:

  • Innerer Monolog
  • Sekundenstil
  • photo- oder phonographische exakte Wiedergabe der Wirklichkeit
  • überwiegend personale Erzählweise und Dialoge
  • Darstellung der Dialoge inklusive aller Wörter, Wortfetzen, Pausen und Dialekte
  • zeitdeckende Erzählung (Erzählzeit = erzählte Zeit) bis hin zum 
  • Zeitlupeneffekt (Erzählzeit ist länger als erzählte Zeit)

ab 1895 Spätnaturalismus: Die wissenschaftlich-objektive Herangehensweise erfährt im Spätnaturalismus zunehmende Kritik, bspw.: durch Albert Einsteins Theorie zur Subjektivität von Raum und Zeit oder Siegmund Freuds Thesen zum unbewussten Aspekt im angeblich rational bestimmten Individuum. Hofmannsthal geht sogar soweit, dass er dem menschlichen Ausdrucksvermögen eine Sprachkrise nachsagt, die sich auf ein virulentes Mißtrauen begründet. Dies hat zur Folge, dass im Spätnaturalismus wieder überwiegend Dramen und Romane, also subjektiv verfasste Texte die Hauptform der Literatur kennzeichnen.


Das Meeting (Marie Bashkirtseff)

Das naturalistische Drama folgt hierbei den selben Grundsätzen, wie auch die naturalistische Prosa. Angewandte Techniken sind auch hier der Sekundenstil, das Verwenden von Dialekten und Jargons, der auf das soziale Milieu der Protagonisten gerichtete Fokus und die Einhaltung der Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Es gab zwar vermehrt kritische Stimmen, die den Vertretern des literarischen Genres eine Vermischung von Epik und Drama vorwarfen, diese aber begründeten ihren Stilbruch damit, dass sich soziale Aspekte in einem Drama nicht ohne epische Hilfsmittel darstellen lassen. Ausführliche Regieanweisungen waren, gemäß der detailgetreuen und exakten Darstellungen im Naturalismus, kennzeichnend für diese spezielle Form des Dramas.




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Eine Auswahl bedeutender Werke & Vertreter des Naturalismus:


Buch der Zeit (1887)
Arno Holz

Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze (1891)
Arno Holz

Revolution der Lyrik (1899)
Arno Holz

Papa Hamlet (1889)
Arno Holz / Johannes Schlaf

Meister Oelze (1892)
Johannes Schlaf

Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887)
Wilhelm Bölsche

Bahnwärter Thiel (1888)
Gerhart Hauptmann


Vor Sonnenaufgang (1889)
Gerhart Hauptmann

Die Weber (1892)
Gerhart Hauptmann