Schreibbüro zum blauen Federkiel

Pflanzen in der Literatur - Teil 2: Der Fall Rapunzel

"Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!" 

ist wohl einer der berühmtesten Sätze aus den Märchen der Gebrüder Grimm. Er gilt einem Mädchen mit unwahrscheinlich langen Haaren, das von der Zauberin Gothel in einen hohen Turm gesperrt wird. Die junge Dame hat ihren Namen dabei einer besonderen Pflanze zu verdanken, die laut Märchen im Kräutergarten der Zauberin wuchs. Häufig wird hier der Feldsalat als vermeintliche Rapunzel vermutet. Ob dem tatsächlich so ist, möchten wir heute etwas genauer beleuchten.


Es war einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich schon lange vergeblich ein Kind, endlich machte sich die Frau Hoffnung, der liebe Gott werde ihren Wunsch erfüllen. Die Leute hatten in ihrem Hinterhaus ein kleines Fenster, daraus konnte man in einen prächtigen Garten sehen, der voll der schönsten Blumen und Kräuter stand; er war aber von einer hohen Mauer umgeben, und niemand wagte hineinzugehen, weil er einer Zauberin gehörte, die große Macht hatte und von aller Welt gefürchtet ward. Eines Tages stand die Frau an diesem Fenster und sah in den Garten hinab, da erblickte sie ein Beet, das mit den schönsten Rapunzeln bepflanzt war; und sie sahen so frisch und grün aus, dass sie lüstern ward und das größte Verlangen empfand, von den Rapunzeln zu essen. [...]

Rapunzel im Märchen

Gemäß dem Grimmsmärchen erhielt das Mädchen Rapunzel ihren Namen nach einem Eklat im Garten der Zauberin Gothel. Diese erwischte Rapunzels Vater beim Diebstahl der gleichnamigen Pflanze. Seine Frau hatte während ihrer Schwangerschaft einen unstillbaren Heißhunger auf das Gewächs entwickelt und ihren Mann gebeten, ihr doch heimlich ein paar Pflänzchen aus dem Nachbarsgarten zu stehlen. Anfangs gelingt ihm dies noch unbemerkt, doch eines Nachts wird er von der magiekundigen Gartenbesitzerin auf frischer Tat ertappt, die den Dieb nicht ungeschoren davonkommen lassen will. Zur Strafe fordert sie seine noch ungeborene Tochter ein, die fortan bei ihr Leben soll. Aus Angst vor Verzauberung willigt Rapunzels Vater ein und übergibt sein Kind nach der Geburt an Gothel, welche das Mädchen schließlich auf den Namen des "Corpus delicti" tauft.




So legendär das 1812 erstmals veröffentlichte Märchen der Gebrüder Grimm auch ist, war es doch nicht die Urfassung der Geschichte. Tatsächlich haben die Märchenbarone nämlich beim italienischen Schriftsteller Giambattista Basiles abgeschrieben. Bei ihm ist die aus dem Zaubergarten entwendete Pflanze eine Petersilie, weshalb sein 1634 erschienenes Märchen auch nicht Rapunzel, sondern Petrosinella (dt. Petersilchen) heißt. 
 
Auch in der französischen Version von Charlotte-Rose de Caumont de La Force aus dem Jahre 1689 wird das Mädchen noch Persinette, also Petersilie, genannt. Erst der deutsche Autor Joachim Christoph Friedrich Schulz machte in seiner 1790 herausgegebenen Romanreihe "Kleine Romane" aus Petrosinella eine Rapunzel, und versäumte dabei, eine entsprechende Quelle anzugeben. Das vermeintlich deutsche Volksmärchen ging also unter falschem Namen in die Märchensammlung der Gebrüder Grimm ein.



Kraut und Rüben - Von Zauberpflanzen und Frauenkräutern

Nun ist das Märchen der Gebrüder Grimm aber nicht die erste literarische Schrift, in der eine Pflanze namens Rapunzel auftaucht. Der Begriff rapunculus existierte nämlich schon bei den Römern, wo er schlichtweg "Rübchen" bedeutete. Es handelt sich hierbei um eine Verniedlichung des Mittellateinischen Wortes rapunicum, welches sich aus den Worten radix für "Rübe" und dem altgriechischen phou für "Baldrian" zusammensetzt. Rapunzel war im Mittelalter darum eine Bezeichnung für zahlreiche Baldriangewächse, die rübchenartige Wurzeln ausbilden.
 
So beschreibt Adami Loniceri 1593 in seinem Vollständigen Kräuterbuch oder Das Buch über alle drey Reiche der Natur die Rapunzel als eine Pflanze, aus deren Blättern und Wurzeln ein Salat gemacht werden konnte, und die sich durch hohe Stängel und blaue Blüten auszeichnete. Auch bei D. Jacobi Theodori Tabernaemontani (1625) und Theodor Zwinger d. Jüngeren (1744) erscheint die Rapunzel als Nutz- und Zierpflanze, deren Blüten blau oder auch safrangelb leuchten.
 
Goldbaldrian | by Σ64
 
Man kann davon ausgehen, dass es sich bei den beschriebenen Baldriangewächsen entweder um den gelb blühenden Goldbaldrian (Patrinia scabiosifolia) oder blau blühenden Gewöhnlichen Feldsalat (Valerianella locusta) handelt. Des Weiteren wurden immer wieder einige blau blühende Glockenblumengewächse, darunter die Rapunzel-Glockenblume (Campanula rapunculus) sowie die Seuchzer-Teufelskralle (Phyteuma scheuchzeri) als Märchen-Rapunzel diskutiert. 
 
Gemeinsam ist den Pflanzen, das sie im Mittelalter entweder als Heilkräuter bzw. Gemüsepflanzen genutzt wurden oder als Zauberpflanzen galten, denen man magische Kräfte nachsagte. Die dunklen Blattflecken der Teufelskralle beispielsweise mit dem Menstruationsblut der Gottesmutter Maria assoziiert. Sie galt deshalb als schützendes Frauenkraut, aber auch als wohlschmeckendes Wurzelgemüse und fruchtbarkeitsförderndes Aphrodisiakum

[...] Das Verlangen nahm jeden Tag zu, und da sie wusste, dass sie keine davon bekommen konnte, so fiel sie ganz ab, sah blass und elend aus. Da erschrak der Mann und fragte: "Was fehlt dir, liebe Frau?" - "Ach," antwortete sie, "wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserm Hause zu essen kriege, so sterbe ich." Der Mann, der sie lieb hatte, dachte: "Eh du deine Frau sterben läßest, holst du ihr von den Rapunzeln, es mag kosten, was es will." In der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Handvoll Rapunzeln und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus und aß sie in voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut, so gut geschmeckt, dass sie den andern Tag noch dreimal soviel Lust bekam. Sollte sie Ruhe haben, so musste der Mann noch einmal in den Garten steigen. [...]

Basiles Petersilie galt ebenfalls als aphrodisierend und war aufgrund ihres luststeigernden Rufes Bestandteil diverser Liebestränke und -salben. Führte das Liebesleben zu ungewollten Konsequenzen, so sollten die Samen der Petersilie als Abtreibungsmittel eingenommen werden. Bei Hochzeiten hingegen wurden die Blätter der Petersilie verbrannt, um durch ihren Duft Geister und Dämonen vom Hochzeitspaar fernzuhalten. Milchfördernde Eigenschaften besaßen hingegen die Wurzeln der Rapunzel-Glockenblume, weshalb sie vor allem für werdende Mütter von Bedeutung war. 
 
Rapunzel-Glockenblume | by Katya
 
Und auch Goldbaldrian und Feldsalat besaßen für Frauen bedeutsame Heilwirkungen, die von beruhigend über antibakteriell und blutreinigend bis hin zu leberanregend, harnfördernd und abführend reichen. Es wird ersichtlich, dass die potentiellen Rapunzel-Anwärter allesamt Frauenkräuter sind, die sich durchaus im Garten einer realen Zauberfrau oder Kräuterhexe finden ließen.


Welche Pflanze steckt hinter der Rapunzel?

Wirft man einen Blick ins Grimmsche Wörterbuch, wird man feststellen, dass die oben genannten Kräuter auch dort aufgelistet sind. Teufelskralle, Rapunzel-Glockenblume und Gewöhnlicher Feldsalat lassen sich zudem als Salat zubereiten, wie es auch Rapunzels Mutter im Märchen gerne mit den "geborgten" Pflanzen getan hat. Der häufig als Märchenrapunzel genannte Feldsalat scheidet jedoch als Vorlage aus, da er erst seit Ende des 19. Jahrhunderts als Nutzpflanze in Europa kultiviert wird.  
 
Beachtet man den Heißhunger, den Rapunzels Mutter in ihrem schwangeren Zustand auf die Rapunzeln entwickelt, erscheint auch die Rapunzel-Glockenblume aufgrund ihrer milchfördernden Wirkung zunächst passend. Da ihre Blätter allerdings erst im Winter geerntet werden, Rapunzels Mutter im Märchen aber auf einen Garten blickt der in voller Blüte steht, scheint die Rapunzel-Glockenblume ebenfalls als mögliche Vorlage auszuscheiden.

Teufelskralle (Alice Chodura)
Teufelskralle | by Oceancetaceen
 
Das Rennen machen somit Goldbaldrian und Teufelskralle, wobei Goldbaldrian nicht in Europa, sondern in Asien heimisch ist. Für die Teufelskralle hingegen spricht zum einen ihr europäisches Vorkommen. Zum anderen ist ihre Verwendung als Aphrodisiakum ein wertvoller Schlüssel zur Deutung des Märchens. Den fast schon liebestrunkenen Wagemut von Rapunzels Vater, mit dem er sich seiner Frau zuliebe in den Garten einer Zauberin getraut, würde es jedenfalls erklären. 

Auch die lüsterne Gier von Rapunzels Mutter, deren Kinderwunsch zuvor so lange unerfüllt blieb, könnte auf die aphrodisierende und fruchtbarkeitsfördernde Wirkung der Teufelskralle zurück zu führen sein. Gleiches gilt für die Namensgebung des Kindes, das laut Märchentext erst nach dem Verzehr der Rapunzeln entstand. Ein weiteres wichtiges Indiz ist die Textstelle, in der beschrieben wird, dass der Ehemann die Rapunzeln sticht, das heißt mitsamt ihrer Wurzeln ausgräbt. Somit kommt nur eine Pflanze in Betracht, bei der neben den Blättern auch die Wurzeln verzehrt werden, was unter allen heimischen Rapunzel-Anwärtern nur auf die Teufelskralle zutrifft.


[...] Er machte sich also in der Abenddämmerung wieder hinab, als er aber die Mauer herabgeklettert war, erschrak er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen. "Wie kannst du es wagen," sprach sie mit zornigem Blick, "in meinen Garten zu steigen und wie ein Dieb mir meine Rapunzeln zu stehlen? Das soll dir schlecht bekommen." - "Ach," antwortete er, "lasst Gnade für Recht ergehen, ich habe mich nur aus Not dazu entschlossen: meine Frau hat Eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt, und empfindet ein so großes Gelüsten, dass sie sterben würde, wenn sie nicht davon zu essen bekäme." [...]



Der Kindesraub der Zauberin Gothel erklärt sich in Anbetracht der Umstände womgölich folgendermaßen: Als Kräuterhexe war sie gewiss erste Adresse für Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch. Es erscheint damit nur logisch, dass sich Rapunzels Mutter in dieser Angelegenheit an die kräuterkundige Nachbarin wandte. Allerdings waren Hexen im Mittelalter bekanntlich sehr einsame Frauen und hegten nicht selten selbst einen unerfüllten Kinderwunsch. Gothel lockte Rapunzels Eltern eventuell in eine Falle um selbst an ein Töchterchen zu gelangen, wohl wissend, dass die Gier der beiden nach der aphrodisierenden Teufelskralle unstillbar werden würde. 
 
In Furcht vor dem mächtigen Kräuterwissen der Zauberin und aus Scham über ihre diebische Lüsternheit erduldete das Ehepar in Folge den Kindesraub als Bestrafung. Die Zauberin ihrerseits verbarg das Kind fortan außer Reichweite der Eltern, um es nicht wieder zu verlieren. Die Verlustangst Gothels wird durch das Wegsperren des geraubten Kindes in einen hohen Turm jedenfalls buchtstäblich untermauert. 

Rapunzel (gespielt von Luisa Wietzorek) bittet die Zauberin Gothel (gespielt von Suzanne von Borsody), sie nicht für das heimliche Treffen mit dem Prinzen zu bestrafen.


[...] Da ließ die Zauberin in ihrem Zorne nach und sprach zu ihm: "Verhält es sich so, wie du sagst, so will ich dir gestatten, Rapunzeln mitzunehmen, soviel du willst, allein ich mache eine Bedingung: Du musst mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich will für es sorgen wie eine Mutter." Der Mann sagte in der Angst alles zu, und als die Frau in Wochen kam, so erschien sogleich die Zauberin, gab dem Kinde den Namen Rapunzel und nahm es mit sich fort. [...]


Ist unsere Theorie an Rapunzels Haaren herbei gezogen? Oder etwa doch ein realistisches Szenario, das Basiles, wie auch die Gebrüder Grimm zu einem Volksmärchen der besonderen Art inspirierte? Der Märchenapfel gibt auf diese Frage wohl die beste Antwort, wie wir finden.


Miriam Adam, Hannah Mages 


 

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